Der abgelegte Zauberer – oder: die Suche nach dem freien Willen an Fasching

Fasching hat schon den letzten Beitrag eingeleitet. Und Fasching ist auch Aufhänger für diesen Post, der sich um ein gewaltiges Thema dreht: den freien Willen! Das Verkleiden ist ohne Zweifel Herzstück der Feierlichkeit. M hat gerade ihr aktuelles Kostüm abgelegt, da werden schon Visionen für die Maskerade im kommenden Jahr gesponnen. Es wird mit Worten entworfen, ausgemalt, wegradiert und neu kreiert. So lange, bis das Kostüm des nächsten Jahres in den stillen Kämmerlein des Hirns eingemottet werden kann. Pünktlich Mitte Januar wird es ausgeschüttelt und auf aktuelle Stimmigkeit geprüft. Nicht so bei H.

Verkleiden ohne Anspruch

Keine Frage, er liebt die Verkleidungskiste seit kurzem sehr. Genau wie M, aber eben komplett anders. M schlüpft in Rollen – will wilde Piratin sein oder magische Fee und sucht sich die entsprechende Staffage. H will etwas auf dem Kopf und etwas, das er über Hände und Arme ziehen kann. Das zu spüren und auch sich so im Spiegel zu sehen, macht ihn glücklich.

Uhr zurück auf Anfang Februar. Für M ist alles glasklar: Sie will Fasching – nix mit genderneutral – als Prinzessin gehen. Was mache ich mit H? Ein bisschen fühle ich mich an die Befüllung des Nikolausstiefels erinnert. Am Anfang steht diese eine Entscheidung: Reicht es das zu tun, was H glücklich macht, oder folge ich den Gepflogenheiten der ‚normalen Welt‘? Was will H wohl?

Ich stelle ihm durchaus die Frage, als was er sich verkleiden will. Ich mache ihm drei Vorschläge, zeige zu jedem ein Bild und versuche, eine Zeige-Entscheidung herbeizuführen. Das Resultat: H freut sich über Cowboy, Zauberer und Hund und zeigt munter hin und her. Er freut sich auch über meine Stimme, die bei jedem Zeig sagt, um was es sich da gerade handelt. Ich nehme seine Hände in meine, halte ihn geduldig dazu an, mir ins Gesicht zu schauen und frage mit Gebärden „Was möchtest du Karneval anziehen?“. Ich gebe seine Hände frei, er nimmt beide Zeigefinger und zeigt gleichzeitig auf Zauberer und Cowboy und direkt danach auf den Hund. Na toll!

Freier Wille in kleinen Häppchen

Fördere ich H’s Selbstbestimmung oder schränke ich sie ein? Manchmal weiß ich das nicht. Am Beispiel Fasching wird schnell klar, was ich meine: ICH treffe die Entscheidung, dass er ein Kostüm trägt und nicht nur Armstulpen und einen Hut. ICH gebe ihm drei Alternativen vor, aus denen er innerhalb MEINES maximalen Geduldspensums keine eindeutig wählt. ICH entscheide dann, dass es praktisch und außerdem wirklich schick wäre, wenn er das Zauberer-Kostüm trägt, das M letztes Jahr anhatte.

Es ist ein sonderbares Gefühl, die Wünsche des eigenen Kindes nicht herausfinden zu können. Und wenn es selbst mit so vereinfachenden Methoden mit der Willensentscheidung nicht klappt, dann macht mich das traurig. Über die Pflege vergisst man sowieso oft genug das Suchen nach den individuellen Wünschen eines behinderten Kindes, also mir geht es zumindest so. Aber wie wichtig ist H sein Wille? Selbst die Entscheidung, ob er Saft, Milch oder Wasser trinken möchte, ist oft zu viel für ihn. Er beherrscht die Gebärden für alle drei Varianten und zeigt das genüsslich. Die Entscheidung an sich ist überhaupt nicht das Thema.

Wünsche müssten aufgegriffen werden

Meine Überlegungen befeuert hat die UN-Kinderrechtskonvention. Sie manifestiert in Artikel 12 die „Berücksichtigung des Kindeswillens“ und in Artikel 23 die „Förderung behinderter Kinder“. Gilt Artikel 12 auch für behinderte Kinder? Und was, wenn die Kinder

Suche ich via Google „Kinder + Mitbestimmung“, gibt es zig qualifizierte Ergebnisse. Suche ich „Behinderte + Mitbestimmung“ ist das ebenfalls so. Die Kombination „Behinderte + Kinder + Mitbestimmung“ liefert nicht viel. Auf Platz drei findet sich eine bezeichnend leere Meldung aus der SZ: „Kinder mit und ohne Behinderungen sollen in Brandenburg mehr gehört werden. Alle Kinder haben die gleichen Rechte (…). Ihre Wünsche und Forderungen müssten aufgegriffen werden.“ Ja, müssten sie wohl.

Was kann ich als Mutter eines geistig behinderten Kindes dafür tun, das es Mitbestimmung lernt, wenn das schon beim Faschingskostüm so schwierig ist? Und was will H überhaupt mitbestimmen? Ich sage doch, dass es ein gewaltiges Thema ist.

Zurück zum Faschingsdienstag. H steht frisch verkleidet vor mir. Er hat seinen Zauberstab in der Hand und zielt damit auf mich. Er hebt und senkt ihn ein paar Mal und lächelt verschmitzt. Hat er mir unsichtbare Eselsohren angezaubert? H sieht glücklich aus. Er trägt das Kostüm selbstverständlich und vor allem  stolz – auch ohne seine Mitbestimmung. Vielleicht hat H im kommenden Jahr eine Vorstellung von dem, was er Fasching sein will. Das Prinzessinnen-Kostüm, das M in diesem Jahr trägt, ziehe ich ihm jedenfalls nicht ohne seinen eindeutig formulierten Wunsch an …

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