Worst-Case-Gummibärchen – oder: Was steckt in einem behinderten Nikolaus-Stiefel?

Nein, es ist nicht der Zucker, den ich meinen Kindern vorenthalten will, wenn ich von Worst-Case-Gummibärchen spreche. Es ist sogar so, – verdrehte Welt mit einem behinderten Kind – dass ich seit langem versuche, H Schokolade schmackhaft zu machen. Bislang mit äußerst zweifelhaftem Erfolg. Als H noch extrem wenig Mund-Koordination beherrschte, schmolz die Schokolade zwar in seinem Mund, ja. Aber es trielte so lange braun gefärbter Sabber heraus, bis er wieder klar und die Schokolade also ungeschluckt ausgeschieden war.
Mittlerweile kann H mehr mit Zunge und Lippen anfangen. Jetzt schiebt er die Schoki sofort, dennoch mit entschlossener Ruhe, auf der Zungenspitze wieder heraus – die stille Aufforderung im Gesicht “Mama, nimm das Zeug da raus!“

Gummibärchen als erquicklicher Balsam
Dann sind da die Gummibärchen – süße Wonne für fast jedes Kind. M liebt sie sehr. Ihre Augen leuchten und sie würde jeder Bitte elfengleich nachkommen, wenn Gummibärchen ins Spiel gebracht weren. Ja, wenn es hart auf hart kommt, wird in unserem Haushalt auch mal Gummibärchen-Pädagogik praktiziert. Auch, wenn mir klar ist, dass Belohnung als Motivations-Verstärker absolut zweifelhaft ist – und zuckrige Belohnung erst recht.
Jesper Juul bezeichnet das Belohnen gar als die postmoderne Variante des Bestrafens. Wir bestrafen mangels Kraft/Zeit/Ideen also manchmal postmodern. Blöd, ja …
Jedenfalls wird M morgen früh Gummibärchen im frisch geputzten Nikolaus-Gummistiefel finden. Da ist die Freude vorprogrammiert.

Gummibärchen als massive Überforderung
Für H sind Gummibärchen a) unlecker und b) eine nicht zu verachtende Bedrohung. Vielleicht haben wir vier/fünf kontrollierte Versuche gestartet, H welche zu verabreichen. Den Mund macht er neugierig auf, will die Dinger dann aber – ähnlich wie die Schokolade – schnell wieder loswerden (unlecker).

Behält er sie doch im Mund, kaut er sie nicht. Er schiebt die Bärchen von der einen Backentasche in die andere. Wer ihn kennt, merkt an seinem Gesichtsausdruck, dass er nicht so recht weiß, wohin mit sich und den Bärchen. Schlussendlich verschluckt er sich an den unzerkauten Gummis (bedrohlich). Damit machen wir, Ghost-Stiefelfüller für den Nikolaus, H also keine Freude. Genauso wenig wie mit Schokolade – die M natürlich im Stiefel finden wird. Auch nicht mit Walnüssen, die wir zu Nikolaus ja ebenso gern eingestiefelt werden.

Was also tun? Veräppeln?
Bei einem geistig behinderte Kind gibt es immer auch die Möglichkeit, nur so zu tun, also ob. H freut sich, wenn er seinen Stiefel ausräumen kann. Das kann Zeitungspapier sein oder abgerolltes Küchenpapier oder es sind Kastanien, die er aus dem Stiefel fischen kann. Das wäre genug – so zumindest interpretieren wir H’s Reaktionen.

Gleichzeitig empfinden wir es als Aufgabe familiärer Inklusion, genau das nicht zu tun: einen Behinderten veräppeln. Klingt ja wohl auch voll mies. Nein, im Ernst: Manchmal ist es schwer, sich „Sondergedanken“ zu machen, was H eine Freude machen würde. Dann blitzt die Veräppel-Möglichkeit eben auf und will wieder in den Schrank gesperrt werden. Da hockt sie nun und sowohl M‘s Nikolaus-Stiefel als auch der von H werden ernsthaft befüllt.

Der etwas andere Nikolaus-Stiefel
H liebt Joghurt. Morgens ist sein Standard-Frühstück: gematschte halbe Banane, geraspelter halber Apfel und Haferflocken in fetten griechischen Jogurt gerührt und Agaven-Dicksaft druff – H reibt sich beim Anblick seines weißen Joghurts in schwarzer Schüssel (hoher Kontrast wegen Sehschwäche) immer den Bauch – die Gebärde für „lecker“.

Ebenso gern mag er Brötchen – genau genommen das Innere. Gut, wir wollen H jetzt nicht weismachen, dass der Nikolaus für ihn ein Brötchen ausgepopelt hat, aber in seinem Stiefel steckt ein Brötchen. Und kleine, verdammt süße Kinder-Joghurts. Ein Quetschie und eine Mandarine. Letztere bekommt er dann in gedrittelten Spalten kredenzt. Dann isst er auch mindestens drei davon – deutlich mehr als von Gummibärchen und Co. Bei solch gesunden Vorlieben gibt es für mich als Mutter eigentlich keinen Grund, mich zu beschweren …

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