Buddhistisch könnte man sie nennen. Selbstbewusst vielleicht sogar. Auf jeden Fall ist sie lustvoll, H’s Art, sich voll und ganz dem zu widmen, was er gerade tut. Ich meine nicht, dass er sich sehr lange mit einem Ding beschäftigt – außer es handelt sich um seinen Talker oder seinen Roller. Ich meine, dass er erbittert dagegen kämpft, aus dem herausgerissen zu werden, was er aktuell entschieden hat zu tun. Sehr zu unserem Leidwesen …
Es ist mal wieder soweit: Ich finde unser Leben fürchterlich anstrengend. Vergleicht man dieses Gefühl mit einem Taifun, ist H das Auge des Sturms. Über ihn kann ich mich nicht stürmisch aufregen, wie über manches andere. Eher ist es eine ruhige Resignation mit fatalistischen Tendenzen, die ich fühle, wenn mich die Überforderung im Umgang mit H anweht. Wie schon öfters ergründen mein Liebster und ich, was es eigentlich so anstrengend macht – das Leben mit H.
Endlich mal ein frischer Stressfaktor
Unsere Ergebnisliste ist uns weitgehend bekannt. Sie reicht von der steten Aufsicht eines chaotisch handelnden Kindes über die Sorge um Unfälle, Herzfehler, Augenlicht und Co. bis zu der Tatsache, dass eine gewisse soziale Isolation mit einem behinderten Kind einhergeht. Ihr anderen Eltern behinderter Kinder – vielleicht findet das Resonanz in eurem Erleben?! Eine Offenbarung hält das Gespräch aber für uns bereit: Nahezu alles, was wir mit H machen müssen, geschieht gegen seinen Widerstand. Anders gesagt: Wir müssen ihn zu vielem zwingen. Gut, vielleicht gibt es Menschen, die das genießen. Ich gehöre definitiv nicht dazu.
Wer ein Kind mit Pflegestufe 4 durch das Leben begleitet, hat viele Pflichten. Eine Auswahl derer, die bei uns zuhause sind: Essen reichen, Wickeln und Toiletten-Training, Transport zur Schule, Abholen aus dem Hort, Nase absaugen, inhalieren, Augenpflaster kleben, Halstücher wechseln, zum Schlucken animieren, Zähneputzen, Händewaschen, alles waschen, Schuhe an- und ausziehen, Jacken, Shirts und Hosen und jedes andere Kleidungsstück ebenso – außer Strümpfe und offene Jacken, die schafft H selbst. Zu all diesen Dingen hat H keine Lust. Wir sind diejenigen, die das trotzdem von ihm einfordern müssen. Eine extrinsischere und vor allem wirkungslosere Motivation hat die Welt noch nicht gesehen!
Schlimmer Feind für uns alle: das frühe Aufstehen
Die Situation alltags in der Frühe mit der nicht behinderten M: Keinen Bock aufzustehen, ein bisschen kuscheln, sie murrt manchmal derbe, steht aber auf und zieht sich an. Zwischendurch braucht es nochmals einen Motivations-Drücker oder eine hübsche Albernheit. Dann geht sie runter zu den obligatorischen zwei Toasts, die sie sich oft selbst schmiert. Ist sie fertig, spielt, liest, macht sie irgendwas und es braucht ein, zwei, maximal drei Rufer, bis sie zum Zähneputzen wieder hochkommt. Unsere Absprache dann: Ich sage, wieviel Zeit sie noch hat, damit sie überlegen kann, was sie noch anstellt. Mit Ansage fünf Minuten vorher und meinem „Jetzt“ zieht sie sich an, nimt den Ranzen und ich winke sie aus der Türe. Stimmungsmäßig nicht immer der Brüller, aber es klappt ganz gut.
Die Situation alltags in der Frühe mit H: Keinen Bock aufzustehen. Kopfschütteln. Vehemente Stopp-Gebärden. Verkriechen in die Ecke des Bettes. Trotz beidseitig liebevollem Kuscheln die ersten Schreie, wenn ich ihm den Schlafsack ausziehen will. Ist ja nicht so, dass ich den Wunsch nach bleibender Bettwärme nicht verstehe, aber so freundlich ist der Alltag eben nicht. Der Schlafsack muss aus und ich habe H’s ersten – auch körperlich ausgedrückten – Widerstand hinter mir. So geht es weiter: beim Ausziehen, beim Windelwechsel, beim Anziehen, beim Treppe-Runtergehen, beim Hinsetzen an den Frühstückstisch. Zähneputzen (ja, ist doof, weiß ich) lassen wir morgens schon weg. Und dann DIE Gebärde, wenn H sich zum Anziehen auf die Flur-Treppe setzen soll. Er zeigt viele Male mit dem Finger vor sich auf den Boden. Es bedeutet „hier“, aber auch „jetzt“. Er will bleiben, wo er ist. Nur unsere Trickkiste, die im Wesentlichen aus Ablenken, Locken und Lustigkeiten besteht, hilft dabei, ihn nicht immer an die Hand nehmen und hinter uns herziehen zu müssen. Das ist echt keine gute Atmo. Ist es nicht sogar ganz mieses Karma: Was tue ich meinem Kind da an?
Diese Freude, ist das Neue erst mal da
Nun könnte man denken, der Junge will einfach zu Hause bleiben, wollen andere ja auch. Pustekuchen: Kaum ist er in der Schule, freut er sich immens, dort zu sein. Und holen wir ihn nachmittags aus dem Hort, kennt er wieder nur diese eine Gebärde: Es wird eifrig und mit ansonsten verschränkten Armen auf den Boden gezeigt. Merkt H, dass das nicht ernst genommen wird, weint er bitterlich. Das möchte ich manchmal auch. Es ist schon passiert, dass ich weinen musste, wenn es wieder so anstrengend war, gegen die kindliche Lust ankämpfen zu müssen. Das Umgehen mit der fehlenden Disziplin, die andere Kinder mit der Zeit lernen, und die alles etwas einfacher macht. Dieses Immer-Wieder-Ablehnen dessen, was getan werden muss. Irgendwie lustig: Weine ich tatsächlich mal, funktioniert das auch als wirksamer Trick. Dann grinst H mich an, weil er es nämlich auch ganz doof findet, wenn jemand weint. Also umarmen wir uns. Ist doch sowieso das Beste. Scheiß auf die Disziplin …