Heute geht der 49. Tag zu Ende, an dem H & M wegen der Pandemie zu Hause sind. Unten höre ich meinen Liebsten singen – by the way dasselbe Lied, wie seit über 2.500 Tagen. Die Zwillinge werden also bald schlafen. Die Freude darüber, dass bei ihnen gegen acht Uhr das Kinderzimmerlicht ausgeht, wird mit jedem Tage größer. Auch der Genuss, den ich an jedem zweiten Tag empfinde, wenn der Vater die Kinder bettet, steigert sich spürbar.
Corona-Lockdown bei uns: Ich fahre zwei Mal pro Woche in meine dünn besetzte Bürogemeinschaft. Mein Liebster ist ebenso oft im Büro, wo das Team im Schichtbetrieb abwechselnd zugegen ist. Zuhause sind wir während der Kontaktbeschränkungen verbündet mit einer Nachbarsfamilie. Nicht wir Eltern haben Kontakt, aber die Kinder dürfen in unserem oder in deren Garten zusammen spielen. Für die jungen Knackis auf beiden Seiten ist das eine sehr, sehr, sehr willkommene Abwechslung im Zuhause-Gefängnis. Quasi der Gang in den Hof in „Die Verurteilten“ (super Film übrigens).
Einer bleibt zurück
Wer nicht mit auf den Gefängnishof darf, ist H. Er ist den Nachbarskindern nicht geheuer: H schreit zu unvermittelt, zu verzweifelt und einfach zu laut, wenn ihm etwas nicht passt. Er sabbert und wenn ihm die Hose mal auf dem Trampolin runterrutscht, zieht er sie nicht hoch. Komisch ist das. Er kann nicht sagen, was er will, und weiß das erschwerend manchmal selbst gar nicht so genau. Geht es ihm richtig gut, schreit er ebenfalls, wenn auch angenehmer, und wedelt dann noch hektisch mit den Armen. Das alles macht Angst, verwirrt, irritiert – jedenfalls halten es die Nachbarskinder immer noch höchstens eine halbe Stunde am Tag in unserem Garten mit H aus.
Zu den Nachbarn geht er gar nicht. Da sind schon drei Kinder und H braucht zu viel Begleitung. Das muten wir den Nachbarseltern nicht zu. Ehrlich gesagt, ist dort auch, ohne dass wir darüber explizit gesprochen hätten, M’s Schonraum. Da ist kein behinderter Bruder, der – so seine neue Masche – hundert Mal in einer Minute „Ma“ sagt – seine Bezeichnung für M. Da sind keine Eltern, die genervt aus dem Nichts „Stopp“ rufen, weil H wieder mit dem Kopf zuerst aus dem Trampolin rauskrabbeln will und schon gefährlich weit vorgerückt ist oder die frisch bepflanzten Blumentöpfe mit viel Hingabe umkippt, ausleert und auch ein bisschen Erde probiert.
Regellernen? Fehlanzeige!
Er exploriert ohne zu reflektieren. Regeln, die Kinder normalerweise aus manchmal leidvoller Erfahrung ableiten, fallen irgendwie durch H’s Raster:
- Ich sollte meine Füße zuerst aus dem Trampolin strecken, sonst falle ich zum zehnten Mal auf die Wiese. Fehlanzeige!
- Wenn meine Eltern immer sauer sind, dass ich das Ende des Schlauchs in den Mund nehme, lasse ich es vielleicht besser. Fehlanzeige!
- Wenn ich nicht auf meine Füße schaue, und in beiden Händen etwas trage, wird es für mich schwierig bis schmerzhaft an der Treppe. Fehlanzeige!
- Wenn meine Mutter das Wort „warte“ verwendet, kommt sie wieder. Also bleibe ich im Garten und komme ihr nicht stante pede hinterher. Fehlanzeige!
Wieviel Zeit habt ihr? Mir fallen noch zig nicht ankommende Regeln ein – vor allem aus der Kategorie Wenn meine Eltern immer sauer sind, dass …
Die Welt aus anderen Augen
H erlebt die Welt schätzungsweise als Zwei- bis Dreijähriger. Er kann nur Jetzt. Bald und könnte und gleich und darf und soll und ähnliche Abstraktionen sind ihm fremd. Sie gehören nicht in seine Welt. Das macht es sehr schwer für uns und auch für M. Ein Zweijähriger mit den Kräften und irgendwie auch der Schläue eines fast Achtjährigen. Erziehung startet fast jeden Tag neu. Zehn Minuten weggucken kann immer ein von H auf den Kopf gestelltes Terrain bedeuten.
Ich übe mich darin abends, wie jetzt, Kraft für den nächsten Tag zu schöpfen. Ich sage mir, dass unser Leben trotz alledem etwas für sich hat. Schließlich kann ich mit Fug und Recht sagen: „Es bleibt spannend!“