3 Nachmittage hatte ich exklusiv Zeit für unsere Tochter. Morgen erst kommt ihr Bruder wieder von seiner fast viertägigen Klassenfahrt. Ihr Bruder, der die elterliche Fürsorge direkter, dringlicher und öfters braucht als seine Zwillingsschwester.
Geschwister von Kindern mit Beeinträchtigung werden in der Literatur gern als Schattenkinder bezeichnet. Steht unsere Tochter im Schatten, weil Sie einen behinderten Zwillingsbruder hat?
Unsere Tochter …
… hat Humor: Sie denkt sich Witze aus. Manche sind mau, bei manchen muss ich echt lachen.
… ist mutig: Sie klettert auf Bäume und fährt allein auf Ferienfreizeiten.
… ist hilfsbereit: Unterstützung gibt sie ohne zu zögern.
… kreiert phantasievolle Geschichten und Bilder.
… ist launenhaft und beschwert sich oft.
… weiß mit ihren 10 Jahren schon vieles besser.
… trödelt und ist nicht so strukturiert, wie manch anderes Kind.
Anders gesagt: Ein Porträt von ihr hätte viele Farben – Dunkelgrau ist genauso dabei, wie Hellgelb.
Ja, sie ist durch und durch farbenfroh. Ihre Lieblingsfarben sind blau und grün. Sie ist kein Schattenkind. Manchmal steht der Hibbelmors ihr in der Sonne, im Weg oder auf den Füßen herum. Er nervt sie wie jeder ordentliche Bruder das tut. Natürlich gab es Momente, wo sie unsere absolute Aufmerksamkeit gebraucht hätte, wir aber wegen akuter Themen mit dem Hibbelmors beschäftigt waren. Natürlich ist es nicht immer leicht, wenn Freund*innen zu Besuch sind, die den Umgang mit behinderten Kindern nicht kennen. Natürlich ist es eine Herausforderung, aber ohne schattige Kälte.
Morgen kommt also der Hibbelmors wieder und nimmt seine unfreiwillige Sonderrolle ein. Mehr körperliche Nähe, mehr Aufmerksamkeit gebührt dann wieder ihm. Aber beide Kinder haben genügend Licht, um zu erblühen. Das merke ich an ihren Persönlichkeiten. Auch daran, dass unsere Tochter vorhin sagte: „Jetzt muss der Hibbelmors (sie sagt natürlich seinen Namen) aber auch mal wiederkommen.“ Er gehört dazu. Wir sind eine Familie, alle mal beschattet, mal besonnt …