Aquaman und Cineast – oder: Behinderte Freizeit gestaltet sich etwas anders

H geht NORMALERWEISE in die Schule und in den Hort. Das heißt, er ist an Werktagen von 8 bis 16 Uhr außer Haus. Jetzt, unter dem verschärften Infektionsschutzgesetz, ist deutlich mehr Zeit, die es zu Hause zu füllen gilt. M trifft sich mit Freunden, gesellt sich spontan zu Nachbarskindern, wenn sie auf der Straße spielen, hört ein Hörspiel, zoomt schon mal, liest ein Buch oder bastelt. H stehen diese Freizeitaktivitäten entweder nicht zur Verfügung oder sie langweilen ihn. Was aber zieht bei ihm?

So unterschiedlich Behinderung und Nicht-Behinderung sich ausdrücken können, so unterschiedlich sind auch die Vorlieben in der Freizeitgestaltung. Generell möchten die meisten Eltern sicher, dass ihre Kinder sich wohl fühlen in ihrer Freizeit und etwas finden, das ihnen Spaß macht. Dabei sollte es aber möglichst nicht komplett sinnbefreit sein. Bei H – und so ähnlich gestaltet es sich bei einigen anderen behinderten Kindern in unserem Bekanntenkreis – braucht es zudem eine Art kontrollierter Beschäftigung. Einfach, weil er sonst gern mal fatale Faxen macht. Ich berichtete schon darüber. Hier sind drei Aktivitäten, die H sehr schätzt.

Springen

Eigentlich wollten wir einen Garten-Garten. Wollten, dass die Kinder Natur miterleben, dass sie pflanzen, buddeln, ernten und so’n Zeug. Machen sie auch, aber die Kinder-Lust bleibt deutlich hinter unseren Erwartungen zurück. Zudem kann H den mühsam aufgepäppelten Jungpflanzen schon mal lebensgefährlich werden …
Letztes Jahr dann kam Corona und zum Glück haben uns unsere verdammt tollen Nachbarn ihr Trampolin vermacht. M springt gern und H erst recht. Wir haben das Trampolin vor zwei Wochen wieder ausgemottet. H gebärdet jedes Mal, wenn ich sage, wir könnten in den Garten gehen,“Trampolin“: eine Hand flach nach oben geöffnet, Zeige- und Mittelfinger der anderen Hand springen auf dem so dargebotenen Handteller.

Vorteil: Es ist toll zu sehen, wie er die Koordination beim Springen perfektioniert. Ein wirklich praktischer Nebeneffekt ist, dass die Perestaltik angeregt wird. H hat mit seiner leichten Hypotonie echt Schwierigkeiten, abzuführen. Springt er Trampolin, klappt es meistens (für alle, die es nicht wissen: H trägt Windeln).

Nachteil: H springt eigentlich nur zur Not allein. Er will mit seiner Schwester springen oder mit mir. Sein Vater weigert sich standhaft. Klassisches Beispiel: Ich rede mit Engelszungen, dass ich nur ein paar Meter entfernt im Garten werkele, er mich sieht, ich ihn sehe, aber er ruft ausdauernd nach mir.
„Mama, Mama, Mama.“
„H, ich bin ja hier.“
Lauter: „Mama, Mama, Mama, Mama, Mama!“
„H, ich möchte jetzt nicht, ich arbeite hier. Das siehst du ja.“
Verzweifelter, lauter: „Ah! Mama! Mama! Mama!“
Das Ende vom Lied: Ich halte es zehn Minuten durch, um dann doch mit ihm zu springen.
Meine Belohnung ist groß: DER JUNGE IST SO WAS VON GLÜCKLICH – das könnt ihr euch nicht vorstellen!

Fotos, lieber noch Filme

Wenn ich koche, kann es sein, dass ich H seinen Talker zum Spielen gebe oder (deutlich seltener) mein Smartphone, um Fotos anzuschauen. Beides macht er gern. Auch unsere Fotobücher sind Dauerbrenner bei H. Er könnte Stunden mit einem von uns dasitzen und die abfotografierte Familienvergangenheit durchstöbern.

Jedoch fällt all das weit ab gegen Filme. Ende letzten Jahres haben wir eingeführt, einen Film pro Woche zu gucken – immer in zwei Hälften geteilt. M achtet sehr darauf, dass diese Filmabende nicht vergessen werden und findet eine starke Lobby in H. Er pocht leise aber vehement mit der entsprechenden Gebärde (Faust dreht sich neben der Schläfe parallel zum Kopf) auf die Einhaltung des Film-Rituals.

Vorteil: 45 Minuten konzentrieren sich alle auf eine gemeinsame Sache. H fragt nach dem, was er sieht und macht seine Emotionen deutlich. M lacht zwischendurch auf diese herzerfrischend kindliche Art. Wir alle sitzen nah beieinander auf dem Sofa.

Nachteil: Wehe der Film ist vorbei. Dann kommt der lautstarke Trotz. M hat längst gelernt, mit der Frustration sozial erträglich umzugehen. H jedoch drückt den Frust mit Schreien und Weinen aus. Er ist schlicht verzweifelt. Dieses dreuende Unwetter am Ende überschattet den Filmgenuss immer ein wenig.

Aquaman himself

H badet extrem gern. Er spielt frenetisch mit dem angeschlossenen Gartenschlauch. Er findet den Wassersprenger grandios. Er erfindet immer neue Wasserspiel-Varianten am Spülbecken. Er füllt im Waschkeller mittlerweile die Gießkannen selbst und lehrt sie auf den (zum Glück für Nässe gemachten und mit Abfluss versehenen) Boden.
Die Nachteile des Umgangs mit diesem Medium muss ich wohl nicht aufführen. Jedenfalls wischen wir deutlich mehr als früher. Dennoch versuchen wir immer mal wieder ihm das Wasser zu gönnen. Je wärmer es draußen ist, desto einfacher ist das natürlich. Und wenn eines Tages die Schwimmbäder wieder aufmachen, erfüllt sich H’s großer Traum. Seit Pandemie-Start fügt er der Gebärde für „Schwimmen“ konsequent die Gebärde für „geschlossen“ hinzu. So oft, wie er diese Kombi mit empört geöffnetem Mund wiederholt, merkt man: Diese Einschränkung ist bei weitem die schlimmste in seinen Augen. Diese Perspektive hat etwas Entlastendes …

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