Das beschirmte Herz – oder: die postoperative Rückkehr der Überforderung

Ein Loch im Herzen eines kleinen Mannes, unseres kleinen Sohnes. Wir wissen lange darum, aber „… am besten operiert man ein Vorhofseptumdefekt zu Beginn der Schulzeit“ ist unglaublich weit weg. Bis unser kleiner Sohn auf einmal in der Schule ist …

Also fahren wir im Ferbuar in die Kinderklinik Oldenburg und bringen dort alle Vor-Untersuchungen, Vor-Gespräche sowie Vor-Ängste hinter uns. Der leitende Klinikarzt bestätigt die Meinung unserer Kinderkardiologin: das Loch sollte zu. Zu groß sei es, um den Jungen ein Leben lang unbehelligt zu lassen. Wir vertrauen den zwei Fachexpertisen und terminieren den Eingriff weit im Voraus auf die Woche nach unserem Insel-Sommer. Frisch urlaubsbetankt, so denken wir, können wir alle die OP besser ertragen.

Keine große Sache

Ein Routine-Eingriff, minimalinvasiv, keiner gestorben dabei bislang – so sieht es der Kardiologe. Kameras, Metall-Instrumente, ein ärztlicher Drahtseilakt im Herzen meines Kleinen – so sehe ich es. Mein Liebster geht mit H in die Klinik, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Alles geht gut, auch wenn die OP doch etwas komplizierter ist, als gedacht. H steckt den Eingriff unglaublich gut weg. Nur hat er schon in seinem zarten Alter ein Ärzte-Trauma und hängt derart an seinem Vater, dass der Kleine nachts aufwacht, wenn sein einzig wahrer Beschützer auf Toilette geht. Erst, so sagt es mein Liebster später, als H durch die Klinik-Pforte nach draußen tritt, wird er wieder zu unserem Sohn.

Sorge ist Zuneigung im Akkord

Wer sich um einen geliebten Menschen sorgt, dessen Liebe schwillt an wie ein geprelltes Knie. Das Gefühl ist stets präsent. Es schmerzt fast wie jugendlicher Liebeskummer und ist ebenso toxisch. Fällt die Sorge ab, ist das ernüchternd. Auf einmal ist die Herz-OP, die uns so lange bevorstand, geschafft. Zwei, drei Tage schwelge ich in purer Dankbarkeit und freue mich an meinem besonderen Jungen, der nun auch noch besonders tapfer ist. Dann ist er auf einmal wieder da, der nervige Alltag mit einem Achtjährigen, der exploriert wie ein Kleinkind. Und explorieren heißt: ausschütten, abreißen, abbrechen, rausräumen, zerfleddern und weitere destruktive Unternehmungen. Nichts hat sich geändert und das trifft mich, emotional ausgelaugt wie ich bin, ungeahnt hart. Eine Woche lang hardere ich arg mit der Aufgabe, H durch sein andersartiges Leben zu begleiten. Ich sehe mich die nächsten 12 Jahre in engmaschigster Betreuungspflicht und finde keine Kräfte in mir, die das bewerkstelligen könnten. Die Corona-entstellte Betreuungssituation sitzt mir dabei noch im Nacken und ich stelle mir vor, spätestens im Herbst geht es munter weiter mit Schul- und Hortschließungen …

Zerfetz‘ ich eben auch mal was

Mittlerweile hat sich die Überförderungswoge wieder gelegt. Der Alltag ist aktuell zum Glück von ungewöhnlich regelmäßiger Struktur. Ich habe ein Wochenende raus geplant – ohne die anderen. Ich habe wieder in meine Arbeit gefunden und sie gefällt mir. M versucht noch manchmal, ihrem Bruder zu sagen, wo es langgeht. Sie will mich entlasten. Das ist nicht ihre Aufgabe, und das versuche ich ihr zu sagen. Aber was tut ein empathisches Kind, wenn es sieht, wie die Mutter mit ihrer Rolle hardert?! Wir reden drüber und langsam wird M wieder normaler und zickt H zutiefst schwesterlich an. Auch das trägt dazu bei, dass ich meine H-Aufgabe wieder gut nehmen kann. Gestern probiere ich es dann endlich auch mal: Ich verbünde mich mit H und wir zerfleddern gemeinsam ein Buch, das sowieso doof war. Dem überraschten H bereitet es derben Spaß – daraus macht er wahrlich keinen Hehl!

Eine Antwort auf „Das beschirmte Herz – oder: die postoperative Rückkehr der Überforderung“

  1. Liebe Nicole, wieder einmal mehr bin ich fasziniert, hingerissen und voller Bewunderung , nicht nur von der Art, wie du mit den Worten umgehen kannst. Die Klarheit und Offenheit deines aktuellen Berichts, lässt mich schon beinahe neben dir und deiner Familie „stehen“. Meine Bewunderung gilt deiner Kraft und Ausdauer (natürlich auch die meines Bruders) , mit dieser außergewöhnlichen Situation/Lebensart umzugehen und die immer wieder (und nie vorrauszusehenden) Herausforderung zu meistern. Ich schicke dir soviel Kraft , wie es mir möglich ist, umarme dich und wünsche dir auch weiterhin für die Zukunft nur das Beste. Dein Hannes

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