Eine Bangebüx und ein I-Männchen

Unser Zwillingsmädchen geht ab übermorgen in die zweite Klasse. Unser Zwillingssohn wird am Samstag eingeschult – ein spätes I-Männchen, wie es in meiner westfälischen Heimat heißt. Dann kommt mein Unregelkind in eine Regelschule: für mich ein emotionaler Mix aus Science Fiction (eher dystopisch) und Thriller (schwedisch-fies) …

Ja, wir entscheiden uns für die Regelschule. Weil wir erfahren haben, dass H im Nachahmen von ‚Regelverhalten‘ viel lernt. Weil wir glauben, dass ‚Regelkinder‘ im Umgang mit H viel lernen. Weil er in dieser Gesellschaft landen soll. Würden wir uns gleich bei der ersten Schulwahl für die uninklusive Variante entscheiden, wäre das für mich ein bisschen vorauseilender Gehorsam.

Wohnortnähe mit Abstrichen

Nun wird es also die unserem Wohnort nächste Regelschule mit W-und-E-Schwerpunkt. Also mit Schwerpunkt für die Förderung von Kindern, die im Bereich Wahrnehmung und Entwicklung eben nicht ganz regelmäßig sind. Das sind im Bremer Bildungsjargon Kinder mit Behinderungen. Die zur Wahl stehenden Schulen habe ich bereits vorgestellt. M’s Grundschule, die gehüpft in nur drei Minuten von unserer Haustüre aus zu erreichen ist, käme übrigens nicht in Frage. Inklusion bleibt doch selektiv.

Eine Schule ist eine Schule und kein Kindergarten

Die Philipp-Reis-Schule ist dreizügig und jeweils die ‚B-Klassen‘ sind inklusiv. Die räumliche B-Ausstattung ist topp: Klassenraum plus Computer-Durchgangsräumchen plus großer Differenzierungsraum. Es gab schon inklusive Ansätze lange bevor die Bildungssenatorin das verordnet hat. 20 Schüler*innen, eine Klassenlehrerin, eine Förderpädagogin, eine Klassenassistenz – in H’s Durchgang dann noch zwei persönliche Assistenzen. Eine für ihn, wenn sie denn eine finden. Mathe und Deutsch werden differenziert unterrichtet, die anderen Fächer meist im Klassenverbund. Alles Bombe soweit!

Wer Kinder hat, erinnere sich an die Zeit des Übergangs vom Kindergarten in die Schule. Ein bisschen Mitgefühl damit, dass es nun unwiederbringlich losgeht mit dem Ernst des Lebens kennt ihr vielleicht. Ich kenne es jedenfalls von M. Wenn das ein Mäuse-Gefühl war, kommt es bei H als Elefanten-Emotion dahergestapft. Denn Schule wie ich sie kenne, hat mit persönlicher Fürsorge wenig zu tun. Dabei glaube ich doch so sehr, dass H einen fürsorglichen Menschen an seiner Seite braucht. Ich wünsche, ich werde eines Besseren belehrt. Ich hoffe es und ganz selten glaube ich es auch. Ab Samstag darf ich mich belehren lassen.

Und das Wichtigste zuletzt: die Schultüte

Apropos Samstag: Für den großen Tag wünscht sich H eine blaue Schultüte mit einem Roller drauf und einer Wolke. Seit neuestem soll sich auch eine Sonne hinzugesellen. Meine Fragen nach der Farbe werden von H nicht konsistent beantwortet, aber Blau hat mit 6 Antworten gegen Grün (4), Gelb (4) und Rot (2) gewonnen. Alles natürlich gefühlte Zählungen. Ich schrieb schon darüber, wie schwierig es ist, eine Entscheidung im Sinne eines behinderten Kindes zu treffen. Das manifestiert sich nun in der Gestaltung der Schultüte. Für M war klar: Ein Einhorn und viele Sterne müssen drauf und es darf mächtig glitzern. Kein Umschwenken bei neuerlichem Fragen. Bei H bin ich so glücklich, als er von sich aus einen Roller vorschlägt, dass ich keine neuen Motive erwäge oder erfrage. Und bei der Auszählung der Farb-Wertung dürfen auch Unstimmigkeiten vermutet werden. Aber H wird glücklich sein mit seiner blauen Tüte und später dann hoffentlich auch mit seiner Schule.

Telepathie macht Schulerfolg

Mein Liebster sagt: „Jetzt müssen wir zu dieser Entscheidung stehen, sonst wird H mit uns unsicher!“ Recht hat er, aber der dystopische Thriller läuft weiter in meinem Herzkino. Abstellen kann ich ihn schwerlich, einen Vorhang davorziehen – das geht bisweilen. Vielleicht kann ich ihn in den nächsten Wochen gegen eine Leichtbauwand eintauschen. Daran hängt natürlich ein Gemälde mit einem leichtläufigen Roller, einer kleinen, kaum grauen Wolke und einer überzeugend strahlenden Sonne …

Eine Antwort auf „Eine Bangebüx und ein I-Männchen“

  1. Schon wieder so ein guter Text., der mir eure Wolken und Sonnen nahebringt. Ich frage mich: ist es eigentlich ein bisschen so, wie mit dem wirklichen Wetter? Da muss ja auch mit dem umgegangen werden, wie’s kommt. Und sich immer wieder warm anziehen …

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