50 cm Abstand, bitte

Eine schöne Überraschung, auf einer kleinen Nordsee-Insel ein beeindruckendes Museum zu finden. Ich meine jetzt kein Nautik-, Natur- oder Heimatmuseum, sondern ein handfestes Kunstmuseum. Ein Besuch dort mit Kindern generell, besonders aber mit einem außergewöhnlichen Hibbelmors, wie H einer ist, sorgt für einen Kunstgenuss der diätischen Art …

Nur wenige Strandtage in diesem Urlaub auf Föhr. Seit drei Jahren fahren wir hierher und – never change a running system – werden es wahrscheinlich auch noch zwei, drei weitere Jahre tun. M mag es hier und H kommt super zurecht. Es gibt eine Schaukel im hauseigenen Garten und drei Strände, die wir mögen – jeder mit etwas anderen Vorzügen: 1. lecker Pommes, 2. toller Spielplatz, 3. Steg, auf dem immer irgendwelche Kinder mit fleißig helfenden Eltern Krebse fangen.

Das Meer ist für H so faszinierend, dass Strandtage in Stress ausarten können, weil er am liebsten immer im Wasser spielen würde.

Heute ist das Wetter launisch. Also gehen wir nach Alkersum (knapp über 400 Einwohner) und besuchen das dort ansässige Museum Kunst der Westküste. M und ich fahren auf unseren mitgebrachten Fahrrädern, H und mein Liebster auf dem hier geliehenen E-Lastenrad. Ausstteigen und gleich ein erster Fast-Fall-Stolperer. Hier läuft man sehr hübsch und traditionell, aber sehr barrierereich auf Katzenkopfpflaster. Der 100-Meter-Weg zum Museumseingang ist von vielen Ablenkungen und Fingerzeigen verlangsamt, aber als H den blauen (statt des klassisch roten) Teppich entdeckt, der vor der Eingangstür verlegt ist, weiß er, wo er hin will. Zum Glück deckt sich das mit unseren Zielvorstellungen. M wartet schon längst drinnen.

Meisterwerke brauchen Respekt

Schon bei Betrachtung der ersten Wand spricht M von dem schönen Licht, von komisch aussehenden Kindern, von den dick aufgetragenen Farben. Die zeigt sie uns voller Elan – der Finger schwebt zehn Zentimeter vor dem goldgerahmten Werk. Wir Eltern rufen synchron „Nicht näher!“.
Da kommt auch schon eine Aufseherin und sagt lächelnd: „50 Zentimeter Abstand, bitte“. Das muss sie sicher oft sagen, wenn Kinder zugegen sind. Was sie eher selten erleben dürfte, ist ein Kind, das sich brummend vor dem Bild „Fischer am Meer an einem Sommerabend“ zu drehen beginnt. Unsicher zwar, dafür aber umso entschlossener, was die ganze Gelegenheit noch brenzliger macht. Noch ist H über einen Meter von den Fischern entfernt. Wird der wacklige Kreisel allerdings aus der Bahn geworfen, kann das zu einer rapiden Annäherung führen …

Also: Kurze Absprache unter uns Eltern: „Du oder ich?“. Dann ein durch den Raum sprintender Vater. Blicke von den umstehenden Betrachtenden. Ein Griff an des Kindes Arm, der einer Verhaftung gleichkommt. Was bleibt uns übrig, wenn die Fischer in Gefahr sind?

Hallo Echo!

H bleibt an des Vaters Hand – zumindest in den Sälen mit den tief gehängten Meisterwerken. Das Zwangs-Duo betritt den nächsten Raum. Jemandem fällt etwas zu Boden. H, der Aufmerksame, bemerkt den Hall sofort. Na, das muss man doch ausnutzen: Ein laut gejuchztes „Aaahh“ erfüllt den blau getünchten Saal. Dann ein „Iiihh“, dann ein „Mama“. Wieder Blicke – gefühlt aus fünfzig Augenpaaren (so viele Leute sind gar nicht hier). Also jetzt auch noch den Mund zuhalten. Liebevoll zwar und nur kurz, aber zuhaltend. Ab da kommt zur elterlichen Handschelle auch noch ein regelmäßiges „Pscht!“. Die Formel könnte ungefähr so lauten: Je weniger ein Setting auf Inklusion ausgelegt ist, desto mehr Polizei müssen wir spielen. Gangster ist unser kleiner Sohn.

Mein Liebster und ich sehen die meisten Bilder, finden auch zweieinhalb Momente, um uns zu zeigen, was uns besonders ins Auge fällt, aber es ist ein bisschen Pareto dabei: 80 Prozent reichen dicke. Hauptsache, wir kommen bald in den ‚Hygge-Raum‘. Den kennen wir aus dem letzten Jahr. Er ist für Kinder gemacht. Hier kann H wieder aus der Polizeigewalt entlassen werden und kreiseln, brummen und aahhen. Wir sind froh, dass wir zwanglos mit ihm Bauklötze aufeinanderstapeln können. Ist doch auch Kunst, irgendwie …

4 Antworten auf „50 cm Abstand, bitte“

  1. Hihi, wie bei uns. Ich fühle mich oft voll schlecht als Polizistin; denke, es müsste auch liebevoller gehen. Bin froh, zu lesen, dass ihr es auch nur so in den Griff kriegt. Die Art, wie Du schreibst ist einfach wunderbar!

    1. Ich fühle mich auch gar nicht gut dabei. Vor allem, weil ich weiß, dass der, der ‚bestraft‘ wird, am wenigsten dafür kann. Und auch gar nichts Schlimmes im Schilde führt. Aber H’s Spiel und Art sind eben ganz, ganz oft zu viel für die Leute. Zu viel Irritation, zu viel Lautstärke, zu viel, was sie nicht kennen. Und das Söhnchen bekommt diese Intoleranz so fies zu spüren – und zwar durch die, die er am meisten liebt. Da kann man sich nur schlecht fühlen. Aber ich versuche schon bei jedem Cafė-Besuch, bei jeder Bahnfahrt, bei jedem Spaziergang H und mich nicht von den engstirnigen Reaktionen mancher Leute berühren zu lassen. Das geht nicht immer und noch weniger an so hochkulturellen Orten, wo Ungewöhnliches noch weniger Platz hat …
      Danke, Andrea, für dein Ebenfalls-Polizistin-Sein.

  2. So klasse beschrieben! Konnte mir eure Situationen so gut vorstellen. Und auf einmal auch begreifen, wie befreiend mit Bauklötzen zu spielen sein kann …

  3. Hinreißend! 😂
    Danke dass ich teilhaben darf an eurem Räuber- und Gendarm-Insel-Abenteuer – wenn auch nur aus der Ferne.
    Nichtsdestotrotz hat mein Kopfkino sofort den Projektor angeschmissen – ich fühlte mich wie dabeigewesen und sage „Danke“ für einige spontane, herzhafte Lachattacken ..
    Habt noch eine schöne Ferienzeit.

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