Nacht der Schrecken – oder: Jahreswechsel nur in Begleitung

H produziert gern laute Geräusche. Missfällt ihm etwa eine Aktion seiner Schwester, sind 100 Dezibel Protest locker drin – ganz subjektiv gemessen natürlich. Auch, wenn er seine Lautsprache anwendet, also „Mama“ sagt oder „Ah“ als seine Form von „Ja“, fällt das meist lauter aus, als bei anderen.

Dann sind da noch die Dinge, mit denen man laut sein kann: vom Klassiker „Holzlöffel auf Kochtopf“, bis zur Kür „hochgehobene und in losen Abständen fallen gelassene Unterbett-Schublade“. Das ganze Spektrum der Möglichkeiten praktiziert H ausdauernd bis grinsend.

Wehe aber, die lauten Geräusche kommen von woanders. Dann kriegt H es mit der Angst zu tun – und zwar nicht zu knapp. Wer den Beitrag „Alle jauchzen, einer schreit“ gelesen hat, weiß, wovon ich rede. Kinderlärm ist absolut ok, laute Musik, vor allem elektronischer Art mit schrägen Sounds ist schon kritischer. Staubsauger, Mixer, Rasenmäher und Donner aber gehören zu H‘s ärgsten auditiven Feinden.

Und jetzt Silvester. Ab sechs Uhr geht es verstärkt los mit knallenden Böllern und zischenden Raketen. Ich bräuchte gar nicht weiterschreiben, ist doch klar, was die Addition H plus Silvester ergibt, oder?

Knallerei verschlafen? Gern, wenn alles stimmt

Die ersten fünf Jahreswechsel seines Lebens hat H erstaunlicherweise verschlafen – genau wie seine Schwester. Weshalb? Wahrscheinlich

… war er müde genug,
… die Böller-Raketen-Soundkulisse war im richtigen Moment ausreichend leise,
… war es die beruhigende Wirkung seiner gewohnten Umgebung (H liebt die Gebärde für Zuhause – wenn beide gestreckten Hände an den Fingerkuppen zusammenstoßen und ein Dach bilden).

Jetzt sind wir über Silvester bei Freunden. Alles ist nett hergerichtet. Die Zwillinge haben, wie zu Hause, eine Doppelmatratze und einer von uns sitzt in der Mitte, um sie ins Bett zu bringen. Aber es ist eben doch alles anders. Es riecht anders. Oben sind Stimmen zu hören. Die Treppe knarzt – und zwar nicht so wie unsere es tut.

Schrecksekunde mit Red Bull-Wirkung

H und ich lesen schon ein Buch im Bett, während M noch mit den befreundeten Jungs drei Raketen abfeuern darf. Schwerer Fehler: Das machen sie direkt vor dem gekippten Fenster unseres Zimmers. Ich verjage mich derart durch den lauten Raketen-Aufstieg, dass ich heftig zusammenzucke – H in meinem Arm automatisch mit mir.

H schaut mich an, als sei die Welt im Auflösen begriffen. Klar spreche ich beruhigende Worte, erkläre, was Silvester los ist, warum alle rumknallern und bewirke damit rein gar nichts.

M kommt polternd herein, erzählt von Feuerzeugen und buntem Himmel und hinabfallenden Holzstäben. Sie putzt voller Elan Zähne, zieht sich singend an, akzeptiert ohne Murren, dass die Gute-Nacht-Geschichte ausfällt, weil es so spät ist, und schläft ein. Ich habe noch keine eine Strophe unseres Bett-Gassenhauers „Guter Mond“ gesungen, da höre ich schon ihr herzerweichend zufriedenes Schnaufen. H ist müde, gähnt, ihm fallen die Augen zu, aber er bleibt wach. Nach über einer halben Stunde gehe ich hoch zu den anderen und bitte meinen Liebsten mich abzulösen. Er schläft gern mal mit ein, was eine nachgewiesen narkoleptische Wirkung auf die Kinder hat. Noch eine halbe Stunde später ist er wieder da. H schläft tatsächlich. Leider keine weitere halbe Stunde.

Anstoßen oder nicht, das ist die Frage

Ich lege mich also wieder zu ihm, aber er schläft nicht wieder ein. Inzwischen ist es nach elf. Gut, denke ich, dann eben kein Anstoßen mit Freunden. Wird auch überbewertet. Ich bringe H in das Elternbett sage oben Gute Nacht, ziehe mich um, beruhige dabei immer wieder rufend den ängstlichen Jungen, dass ich gleich komme und lege mich ebenfalls hin. H freut sich sehr, dass ich da bin, lauscht aber weiter skeptisch auf die zunehmenden Knallgräusche. Keine Chance. Auch ich kann nicht entspannen mit dem kleinen Hibbelmors neben mir.

Um zwölf dann die Climax. Glocken, mehr Raketen, mehr Böller. Auch oben wird gelacht. Also stehe ich auf – im Schlafanzug (es sind gute Freunde) trage ich den beschlafsackten H die Stiege hinauf und wir stoßen alle an. H genießt die Gesellschaft und die gute Stimmung – die bedrohlichen Geräusche draußen sind auf einmal vergessen.

Es ist schön, den müden aber zufriedenen H in diesem taufrischen Jahr auf dem Schoß zu halten. Das ist mein kleines Glück am Ende dieses anstrengenden Silvesterabends. Obschon das Ende noch nicht erreicht ist: Auch wenn wir die ersten sind, die ins Bett gehen, sind H und ich die letzten die einschlafen. Um zwei Uhr schaue ich das letzte Mal zur Uhr. Dann könnten wohl selbst Donner gepaart mit Mixer, Staubsauger und Knallerei H nicht wachhalten. Fünf Stunden Schlaf bekomme ich. Dann ist H auch schon wach und probiert sich wieder erfolgreich im Lautsein …

Ein schönes und wohlklingendes Jahr euch allen!

5 Antworten auf „Nacht der Schrecken – oder: Jahreswechsel nur in Begleitung“

  1. Liebe Nicole ich lese deinen Blog sehr gerne und mitfühlend. Ich bin sehr stolz auf euch beide und finde es bewundernswert, wie ihr mit der Situation umgeht, euch immer wieder neu zurechtfindet. Es ist unglaublich interessant, spannend und ja , wie schon gesagt bewundernswert. Aus der Ferne wünsche euch viel Kraft, Glück und auch Spaß für das kommende Jahr. Gerne würde ich euch persönlich mehr unterstützen, was von hier aus leider kaum möglich ist. Ich bin in Gedanken bei euch und hoffe das wir uns vielleicht ja bald mal wieder sehen können. Sei umarmt und gedrückt von mir. Herzlichst dein Hannes

    1. Lieber Hannes, auch wenn du weit weg bist, weiß ich deinen gedanklichen Beistand als Onkel von H&M sehr zu schätzen.
      Es ist nun einmal viel Strecke zwischen Bremen und Baden-Württemberg …
      Dennoch tut es gut, zu wissen, dass du Anteil nimmst. Danke dafür und auch dir ein möglichst gesundes, frohgemutes und zufriedenes 2018! Herzlichen Gruß von
      Nicole

    1. Liebe Ines, das wünsche ich dir ebenso.
      Und tatsächlich, meine Angst, das Jahr könne ereignislos bleiben, hält sich definitiv in Grenzen!

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