Eine fiktive, aber durchaus denkbare Situation: Zwei Gespräche zwischen Eltern morgens vor dem Kindergarten – die Kinder wurden abgegeben, es gibt Luft für ein paar Sätze …
1. Gespräch
Eine Mutter: „Heute hat der Kleine sich allein angezogen und dann noch das Frühstücksbrot geschmiert.“ Andere Mutter: „Ja, meine Kleine macht auch so viel selbstständig – es läuft gerade echt gut.“
2. Gespräch
Ein Vater zu einer Mutter: „Gott, bin ich genervt von den Kindern. Erst kommen beide nachts und heute Morgen dann nur Geheule. Manchmal könnte ich sie … echt.“ Die Mutter darauf: „Oh, das kenne ich gut. Bei uns ist eigentlich jeden Morgen Drama. Na ja, jetzt zum Glück erst mal ein paar Stunden ohne Kinder.“
Menschliche Chamäleons
These 1
Zufällig haben sich Eltern mit identischer Stimmung gefunden, man teilt tatsächlich dieselben Gefühle und diese dann auch dem anderen mit.
These 2
Der Chamäleon-Effekt gestaltet die Unterhaltung. Das Gespräch entwickelt sich gemäß der Stimmung, die zuerst in die Waagschale geworfen wird. Die Reaktionen sind eher sozial erwünscht als authentisch.
Die These 2 entspricht deutlich eher meinem Eindruck – gerade bei Gesprächen über Kinder. Da spielen (leider) so viele Konkurrenz- und Tabuthemen, Unsicherheiten und Überforderungen eine Rolle, dass es häufig zu diesen stimmungsgleichen Unterhaltungen kommt. Ist eine Stimmung gesetzt, ist genau das der Rahmen, innerhalb dessen man über sein Kind spricht. Wisst ihr, was ich meine?
Was ist sozial erwünscht, wenn man über sein behindertes Kind spricht?
Etwas fies, aber wie ich finde, nicht ganz an den Haaren herbeigezogen: Manchmal nutzen Menschen solche stimmungsprägenden Aufschläge (halb) bewusst . Als Zwillings- und Behinderten-Mutter höre ich so oft von anderen Eltern: „Ich bewundere euch, wie ihr das alles schafft – das könnte ich nie!“ Klar, ist sicher total nett gemeint – P A U S E – oder?
Oder ist es Schweigegeld? Der Effekt bei mir: Ich fühle mich geschmeichelt, aber auch ausgebremst. Eigentlich ist der Boden bereitet für: „Ja, geht auch alles wirklich ganz gut / läuft immer besser / ich bin auch ziemlich stolz / wir sind ein echt gutes Team / H ist bei uns auch total richtig“ und so weiter.
Den Boden für „Mir geht es gerade echt beschissen / ich fühle mich überfordert / ich muss manchmal heulen, wenn ich daran denke, mich mein Leben lang um ein behindertes Kind zu kümmern / unsere Partnerschaft ringt ganz schön um Luft“ müsste ich mir erst zurückerobern. Wenn ich das tue, ermatten die leuchtenden Augen, die mir gerade noch hoffnungsvoll entgegenstrahlten. Das war so nicht geplant …
Ja, ist etwas überspitzt, aber ein Gespräch über behinderte Kinder hat noch mehr Tabuthemen, Unsicherheiten und Überforderungen auf dem Buckel – da ist die Sensibilität gegenüber solchen Aussagen groß – zumindest bei mir.
Und das Ganze dann noch institutionalisiert
Die Kommunikation mit „beurteilenden Institutionen“ unterliegt diesem Phänomen noch drastischer: Wie ich über mein behindertes Kind rede, muss möglichst genau mit meiner Intention übereinstimmen. Und das will vorher gut überlegt sein. Will ich meinen Sohn von der Einschulung zurückstellen (haben wir tatsächlich gerade beantragt), dann schildere ich ihn kleiner, zurückgebliebener, sozial unverträglicher, als ich ihn sehe. Hier kommt mir kein „Ich bin stolz“ oder „Da hat er einen Riesensprung gemacht“ über die Lippen.
Wieso kann ich nicht frank und frei über H sprechen – das Negative schwarz und das Positive bunt malen –, um dann als kompetente Mutter trotzdem klar zu sagen, was wir brauchen? Ich müsste nicht überzeichnen, damit es auch ja ausreichend für ein weiteres Kindergarten-Jahr und gegen die Einschulung spricht. Das wäre für mich Betreuung auf Augenhöhe und ein großer Wunsch. Denn wisst ihr, dass es sich anfühlt wie Verrat an H, wenn ich ihn so schäbig präsentiere? Mit seinen Unzulänglichkeiten hausieren gehe? Und das ist wirklich überhaupt so gar nicht, was ich will …
Du schreibst sehr klar und bildhaft. Schön über deinen / euren Blog bei euch sein zu können. Viel Kraft und Glück für euch. Ich denk an euch, öfter als ihr denkt.
LG euer auch H.