Es ist Freimarkt in Bremen. Jede Menge Karussels drehen sich, auch in der Innenstadt. Mitten in diesem Trubel landen wir an einem Samstagmittag, weil wir unseren Freunden von ferne die gute Stube Bremens zeigen wollen.
M hat nur Blicke für das – ziemlich unriesige – Riesenrad, das Pferdchen- und das Autokarussel. Auch H zeigt mit großen Augen, lautem ‚Aah‘ und ausgestreckten Armen, dass ihn die Fahrgeschäfte reizen. Als ich ihn frage, ob er mitfahren will – H versteht viel, kann nur selbst nicht sprechen – nickt er überzeugt. Ich schaue in meiner GuK-App nach der Karussel-Gebärde und H greift sie sofort auf. Immer wieder gebärdet er „Karussel“, „Karussel“ . M will ja sowieso …
GAU im Kinderkarrussel
Also schmeißen unsere Gäste eine Runde: H und M sitzen bald im Polizeiauto nebeneinander. Von hinten sehen sie aus wie die anderen fröhlichen Karussel-Kinder. Von vorne betrachtet: ein glückliches Lächeln, ein entsetzt geöffneter Mund. M hupt, winkt, singt zur blechernen Musik. H ist mit den Worten „Und los geht’s“ in eine Krise gestürzt. Der liebevolle und zahnlose Begleiter des Kinderkarussels ist sein Retter aus der Not. Er trägt H sicher am blinkenden Feuerwehrauto und dem glitzernden Motorrad vorbei und in meine Arme. Hier beruhigt er sich ganz langsam. Die schöne Idee, H eine Freude zu machen, ist gründlich in die Hose gegangen. Irgendwie haben wir Eltern das erwartet, aber verderben wir H deshalb von vornherein die Möglichkeit, Spaß zu haben? Das wollen wir heute mal nicht. Zugegeben: Manchmal vermeiden wir potenzielle Krisenherde sicherheitshalber.
Krisenbewältigung aus unterschiedlichen Perspektiven
Solche Krisen sind bei H von null auf hundert und öfters zur Stelle, als mir – und sicher auch ihm – lieb ist. Die populärsten Auslöser: Staubsauger, Rasenmäher, Mixer. Ebenso alles andere, was ordentlich Lärm macht. Was macht M in den fies lärmenden Momenten?
- Sie hält sich die Ohren zu,
- will selbst den Lärmauslöser bedienen,
- schreit, ich soll das ausmachen oder
- rennt weg.
Was kann H machen?
- H ist nicht so kräftig und feinmotorisch, um sich die Ohren tatsächlich zuzuhalten.
- H erfasst die Dinge um ihn herum mit ausgeprägter Sehschwäche und Pendelnystagmus nur zögerlich und in Teilen. Wie soll er erkennen, wozu das Lärmmonstrum gut ist, bevor einem vor Angst die Tränen in die Augen schießen? Dann erkennt man erfahrungsgemäß ja sowieso nix mehr.
- H fehlen die Worte, um sein Missfallen zu äußern. Die Gebärden dafür zusammenzukratzen ist für einen in Stress geratenen kleinen Jungen unddenkbar. Zumal wir gebärdentechnisch eher auf dem Stand von „Mama“ „Saft“ und „Garten“ sind, als auf dem von „Stress“, „weggehen“ oder „Lärmbelästigung“.
- H ist langsam und unsicher – vom Stuhl springen und abhauen ist für ihn überhaupt keine Option.
Cleveres Kerlchen
Da droht ihm also etwas so Lautes, Starkes, Unkontrollierbares und H fühlt sich mit seinen Einschränkungen ohne Zweifel verdammt wehrlos. Eigentlich ziemlich schlau, so richtig die Krise zu kriegen. Wer laut und verzweifelt weint, der wird schon gerettet werden. Oft von Mama oder Papa und selten sogar von Fahrgeschäftsbegleitern …
Eine Antwort auf „Alle jauchzen, einer schreit“