Mal raus – oder: das Recht verhindert zu sein

H & M sind acht Jahre alt. Ende Mai werden sie neun. Bin ich mit M allein und habe das Bedürfnis mal eine halbe Stunde rauszugehen, sage ich: „M, ich geh ’ne halbe Stunde raus. Bis später!“ Zack – so einfach ist das. Zumindest ohne H. Mit ihm ist alles anders und genau deshalb brauchen Eltern von behinderten Kindern Unterstützung …

H hat einen Behindertenausweis. Der Ausweis zementiert das, was wir im Alltag erleben: H ist zu 100 Prozent behindert. Zusätzlich sind im Ausweis ein „G“ und ein „H“ vermerkt, was ihn als gehbehindert und hilflos kennzeichnet. Anders ausgedrückt: H braucht eine nahezu nahtlose Begleitung. Klar kann ich auf dem Sofa sitzen, wenn H sich mit seinem Talker oder einem Tiptoi-Buch beschäftigt. Aber im Schnitt muss ich im Zehn-Minuten-Takt intervenieren. Zum Beispiel …
… klickt er auf dem Talker solange umher, bis er beinahe die mühsam aufgenommenen Gebärden-Videos löscht.
… ist H so fasziniert vom Kuckuck-Ruf, den er dem Tiptoi-Stift zum wiederholten Male entlockt, dass ein Spuckefaden die Buchseite erreicht. Wisst ihr, wie gut man durch Spucke zusammengeklebte Seiten wieder auseinanderbekommt? Richtig: nur mit einem kahlgerissenen Fleck in der Bebilderung.

Draußen kein Sofa in Sicht

M geht zu den Nachbarsjungs oder zum Bäcker, nimmt ihren Roller, um zum Leichtathletik zwei Straßen weiter zu fahren und das Fahrrad, um ihre Freundin zu besuchen, die 5 Minuten entfernt wohnt. H kann mit seinem Roller und neuerdings mit seinem Laufrad auf dem Bürgersteig vor unserem Haus von der Ecke bis zum „P“ (ein Parkplatz-Schild, 80 Meter die Straße runter) fahren. 100 Meter sind es etwa von der Ecke bis zum „P“. Das ist seine Spielwiese. Sein autonomes Gebiet. Seine Freiheit. Aber allein geht es eben nicht: Man muss nach ihm schauen und ihn regelmäßig wieder einfangen. H weiß, welche Strecke er fahren darf, aber ihn fasziniert die große weite Welt genauso, wie seine Schwester. Macht jenseits des „P“-Schildes eine Baustelle auf sich aufmerksam, unterhalten sich dort Leute oder steht eine einsame Mülltonne auf der Straße, kann es sein, dass H seine Spielwiese verlässt. Dann wird es gelinde gesagt spannend: Unbekümmert gesellt er sich zu Bauarbeitern und Leuten (das begrüßen die meisten – gerade jetzt – nur äußerst bedingt). Fleißig greift er die Mülltonne und zieht sie emsig in unsere Richtung. Jedenfalls braucht H draußen mehr Begleitung – oft leider auch eine Korrektur seiner unvoreingenommenen Art in Richtung dessen, was die Gesellschaft sich so vorstellt unter sozialem Verhalten.

Kurz mal sorglos sein

Nun bin ich aber manchmal verhindert und brauche Ersatz. Oft ist es mein Liebster, der sich dann um H kümmert, aber es kann und muss auch manchmal sein, dass wir beide verhindert sind. Teilweise wollen wir auch verhindert sein. Wollen ein bisschen sebstbestimmte Zeit. Allein, wir beide zusammen oder sogar zu dritt mit M. Denn die Begleitung und Pflege von H ist aufwändig. Gepaart mit der Sorge um ihn, belastet das nicht nur uns Eltern, sondern auch M, die oft Rücksicht nehmen oder eben auch mal aufpassen muss.
Eltern von behinderten Kindern bekommen durch die so genannte Verhinderungspflege eine bezahlte Auszeit-Möglichkeit. Das ist viel Wert und ich bin dankbar, dass wir in einem sozialstaatlichen System leben, das so weit entwickelt ist. Über die Verhinderungspflege kann ich die Menschen bezahlen, die sich zeitweise um meinen behinderten Jungen kümmern. Und das ist spielentscheidend, sonst dreht man durch – drehe ich durch.

Verhinderungspflege braucht Flexibilität

In diesem Jahr steht wieder eine Pflegereform an. Bei den Planungen auf der Strecke geblieben sind die Bedarfe von Eltern behinderter Kinder – hier ein Artikel der Caritas dazu. Die Vorlage von Jens Spahn sieht eine deutliche Beschränkung der Verhinderungspflege vor. Im Moment kann ich Personen meines Vertrauens bei der Pflegekasse anmelden und sie stundenweise über die Verhinderungspflege bezahlen. So, wie ich es brauche. Kommt die Pflegereform wie vorgeschlagen durch, sollen nur noch 40 Prozent des Geldes für eine stundenweise Abrechnung zur Verfügung stehen. Der Rest soll nur dann gezahlt werden, wenn die Pflegeperson länger ausfällt. Anders gesagt: H müsste in eine stationäre Einrichtung, damit ich mich erholen kann. Das ist vielleicht zum Vorteil der Pflegekassen und Pflegeinrichtungen, sicherlich aber zum Nachteil der behinderten Kinder und der oft empfindlich belasteten Eltern. Deshalb bitte ich dich herzlich und dringend, diese Petition zu unterzeichnen:

Es ist ja nix Neues: Wer – ruhig nur in kleinem Stil – öfters mal aus dem Alltag ausbricht, der kehrt auch gern wieder zurück. Und es sind neue Kräfte da, die vieles möglich machen; so auch das geduldige Begleiten eines behinderten Kindes jenseits der „P“-Schilder dieser Welt …

7 Antworten auf „Mal raus – oder: das Recht verhindert zu sein“

  1. Die Petition hat bereits über 52.000 Unterstützer*innen. Damit ist das Quorum erreicht, die Anzahl der Stimmen also, die es braucht, damit es zu einer öffentlichen Anhörung kommt. Ich freue mich sehr!

  2. Liebe Nicole,
    wie du weißt bin auch ich ein begeisterter Leser deines Blogs. So erfahre ich viele Einblicke in euer Leben. Natürlich habe ich die Petition unterzeichnet, von deren Inhalt ich ohne deinen Blog wahrscheinlich nie erfahren hätte. Ich lese deinen Blog immer sonntags meinem Vater vor, der nicht nur aufmerksam und gebannt zuhört, sondern für das Thema sensibilisiert wird, immer mehr. Ein weiteres Mal ziehe ich meinen Hut davor, wie ihr das alles schafft. Es liest sich so, als ob ich dabei wäre und euch zusehen kann. Ich wünsche euch viel Kraft und den nötigen Zusammenhalt aus der Ferne.
    LG euer Hannes

    1. Lieber Hannes,
      es freut mich sehr, dass ich dir und deinem Vater unsere Welt ein bisschen zugänglicher machen kann.
      Noch mehr freut mich, dass du das Gefühl hast, der Blog hilft dabei, für das Leben inklusiver Familien zu sensibilisieren. Das brauche ich und das brauchen wir auf dem Weg hin zu einer etwas inklusiveren Gesellschaft!
      Sei herzlich gegrüßt von
      Nicole

  3. Liebe Nicole,
    ich lese Deinen Blog einfach super gerne. Du schreibst so erfrischend und direkt! Auch ich bin über die kleinen Auszeiten die ich und wir uns über die Verhinderungspflege ermöglichen sehr froh.
    Die Petition haben wir schon unterzeichnet. Super, dass Du darauf aufmerksam machst!!
    Liebe Grüße,
    Tina

    1. Liebe Tina, das freut mich sehr. Und ich wünsche mir einfach, dass wir an diesen wenig unterstützenden Reformvorschlägen noch was drehen können. Ich höre von allen Seiten, dass die Verhinderungspflege gebraucht wird – und zwar die stundenweise Variante! Herzlichen Gruß von Nicole

  4. Liebe Nicole,
    ich weiß, wie wichtig das für euch und alle anderen Eltern behinderter Kinder ist – und natürlich habe ich schon unterzeichnet! Herzlich, Doro

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