Eh‘ sie eine Antwort geben, müssen sie die Pfötchen heben

M ist seit Sommer ein Schulkind. Die Grundschule ist zu Fuß in 4 Minuten zu erreichen. Nie gab es Zweifel, dass wir uns für diese Schule entscheiden. Für H die rechte Schule zu finden, ist eine komplexe Unmöglichkeit. Der Reim aus der Häschenschule bringt es auf den Punkt: Handzeichen vor der Antwort – für M schon eine Selbstverständlichkeit. H ist davon meilenweit entfernt …

In Bremen wird inklusiv beschult. Auf der Seite der Bildungssenatorin heißt es dazu: „Die Umsetzung gelingt in Bremen, da der Blick auf einen Prozess in seiner gesamten Komplexität gerichtet ist.“ Für mich als Texterin eine wahre Wonne (Achtung, Ironie!), weil der Satz aus nichts als Worthülsen besteht. Ähnlich leer fühlt es sich zwischendurch an, wenn man versucht  systematisch eine Schule zu finden, die dem Förderbedarf seines beeinträchtigten Kindes wirklich entspricht.

Aber langsam! Welche Möglichkeiten haben wir mit H?

1. Förderzentrum (FÖZ)
Davon gibt es noch drei in Bremen:
– FÖZ für Sehen und visuelle Wahrnehmung
– FÖZ für Hören und Kommunikation
– FÖZ für körperliche und motorische Entwicklung

2. Regelschule mit Förderschwerpunkt Wahrnehmung und Entwicklung
Davon gibt es eine Menge: Schulen, die das schon lange machen, wie die Philipp-Reis-Straße oder die Grundschule Grolland und solche, die gerade erst damit anfangen oder im schlimmsten Fall gerade erst dazu verdonnert wurden. Zur Begrifflichkeit: Geistig behinderte/entwicklungsverzögerte Kinder heißen in Bremen ‚Kinder mit Förderbedarf im Bereich Wahrnehmung und Entwicklung‘ oder einfacher ‚W- und E-Kinder‘.

3. Tobiasschule
Eine private, heilpädagogische Waldorfschule.

Erste Überlegung: Schule an der Marcusallee, FÖZ für Hören und Kommunikation

Zunächst haben wir – zusammen mit der Förderkraft in der Kita – das FÖZ Hören und Kommunikation als gute Möglichkeit gesehen. Schließlich spielt das Erlernen von Gebärden und Talker-gestützter Kommunikation für H’s Selbstständigkeit eine riesige Rolle. Nach einem Telefonat mit einer Lehrerin war aber klar: Sie nehmen nur ein (in Großbuchstaben: EIN) geistig behindertes Kind pro Jahrgang auf.  Bevorzugt werden dabei Kinder, die eine Hörbeeinträchtigung haben. Die liegt bei H nicht vor und es gibt für das nächste Jahr bereits eine Anmeldung für ein geistig behindertes und hörgeschädigtes Kind.

Zweite Überlegung: heilpädagogische Waldorfschule

Kurz nehmen wir die Tobiasschule in den Blick, besuchen einen Tag der offenen Tür. Leider pflegt man hier ein eher christlich-traditionelles Familienbild: Die Schulzeit endet täglich um 13 Uhr und der Hort (hier heißt er Kreisel) bietet nur dreimal pro Woche eine Betreuung bis 16.15 Uhr.  Erstklässler*innen werden beim Kreisel nicht wirklich gern aufgenommen. Zudem fällt ein Schulgeld an und den Weg zur und von der Schule muss man – im Gegensatz zu den staatlichen Schulen – selbst bestreiten. Einen Fahrdienst gibt es nicht, auch keine Zuschüsse. Der Talker wird nicht konsequent im Unterricht eingesetzt und der Anspruch auf eine Assistenz entfällt. Für uns in der Summe nicht gangbar.

Dritte Überlegung: Paul-Goldschmidt-Schule, FÖZ für körperliche und motorische Entwicklung

Die Pädagog*innen hier sind auf unterstützte Kommunikation spezialisiert. Etwas, das H in seinem Leben unbedingt braucht. Also machen wir einen Termin mit dem sehr netten Schulleiter vor Ort. Ein offenes Gespräch, ein transparentes Gefühl, ein guter Gesamteindruck, aber …
… die Schule ist in Bremen-Nord (für Auswärtige: Es geht über die Autobahn). die Kinder werden nacheinander eingesammelt und dann dorthin gefahren. Garantiert maximale Fahrtzeit: 75 Minuten ein Weg!
… die Klassen sind sehr klein und es sind schwerst-mehrfach behinderte Kinder dabei, die kaum Kontakt aufnehmen. Zudem fehlen immer mal Kinder, die in anderen therapeutischen Einrichtungen sind. In einer Gruppe, die wir gesehen haben, waren zwei Kinder mobil, die anderen beiden lagen. H liebt aber Bewegung mit anderen, die Gruppendynamik und auch, sich von ihr anstecken zu lassen.
… die Schule geht ebenfalls bis 13 Uhr und es gibt dort keinen Hort. H würde also nach Bremen gefahren werden und ginge dort mit ganz anderen Kindern in den Hort.
… um ehrlich zu sprechen, haben wir Sorge, dass H hier unterfordert ist. Seitdem er anderthalb Jahre alt ist, wird H inklusiv betreut und hat davon sichtlich profitiert.

Vierte Überlegung : Schule an der Philipp-Reis-Straße

Zehn Fahrradminuten entfernt liegt die Schule an der Philipp-Reis-Straße – eine Grundschule, die schon lange einen W- und E-Schwerpunkt hat. Wir haben die Leiterin des Zentrums für Unterstützende Pädagogik (das sind die, die sich um die Konzepte für Kinder mit Förderbedarf kümmern)  in ihrem Büro getroffen. Nach unseren Schilderungen sieht auch sie H in der Philipp-Reis-Schule. Sowohl was das Verhältnis von Wohn- und Schulort angeht, als auch, was H’s Besonderheiten anbelangt.

Dort arbeitet man aus gutem Grund nicht mit persönlichen Assistenzen. Die Kinder sollen selbstständiger werden. Es gibt also in der Regel Klassen-Assistenzen. Das finde ich gut und doch habe ich Angst, dass H auf dem Pausenhof fällt, dass er geschubst oder übersehen wird oder gar verloren geht. Ja, das olle Mutterherz malt sich mit Genuss die schwärzesten Fantasien aus.

Kurz und gut: Ich fasse mir ein (Mutter-)Herz und frage zum zweiten Mal nach einer Hospitation. Das erste Mal wird mein Wunsch nicht recht gehört. Jetzt bin ich eingeladen: Morgen um 10 Uhr gehe ich in die Inklusionsklasse des vierten Jahrgangs. Zu der Lehrerin, die die nächste erste W- und E-Klasse übernimmt. Ich versuche nichts zu erwarten von den anderthalb Stunden. Aber mal Tacheles geredet: Es bleibt eigentlich keine weitere Alternative. Wen wundert’s, dass ich ordentlich ackern muss, damit meine Erwartungen zumindest unscharf bleiben …

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