Symptom-Ärger

Es gibt Tage wie heute, da bin ich ärgerlich über H. Natürlich liegt es an meiner Arbeitsbelastung, an meinem Nervenkostüm, an meiner Stimmung, am Wetter, an tausend Dingen. Egal, welches Gründe-Gemenge  ausschlaggebend ist: Ich ärgere mich dann über die blöden Symptome von H’s Behinderung. Heute ist es – und das gehört zu den Favoriten – die einfach nicht endende Lust auf orales Erkunden.

Einfach gesagt: H nimmt Dinge sehr gern in den Mund. Sein Halstuch, die Steckteile der Murmelbahn, die Schleichtiere – solche Dinge gehen ja noch. Sie werden lediglich nass. Ihm schmecken aber auch Memorykarten, Buchseiten oder diese dicken Buntstifte, die vermengt mit Wasser zu Aquarellfarben werden. Da hinterlässt das Munden schon drastische Spuren.

Orales Explorieren reloaded

An jedem Tag ist H der Mund sein liebstes Sinnesorgan. Hinzu gesellen sich aber so richtig dolle Mund-Tage. Wenn es viel war im Kindergarten oder H in einen Infekt hineinschliddert etwa. An solchen Tagen häufen sich Szenen wie diese:

H guckt aus dem Fenster – im Mund Angelschnur samt Magneten vom Angelspiel. Ich sage „raus“ (klingt wie ein Hundebefehl, ich weiß, ist aber positiv und kurz formuliert – das funktioniert meist). Er friemelt die Schnur mit der Zunge also raus und ich nehme die Angel weg. Ich erkläre ihm mündlich und mit Gebärden, dass er die Sachen nicht in den Mund nehmen soll. Ich drehe mich kurz weg – wir reden von 10 Sekunden etwa. Kaum schaue ich wieder hin, sitzt H mit der Pappschachtel des Angelspiels im Mund da. Die nehme ich also auch weg und erläutere (noch) in aller Ruhe, dass er mit den Sachen spielen, sie aber eben nicht in den Mund nehmen darf. Ich gehe in die Küche, um die Pappschachtel trockenzulegen. Ich kenne ja meinen Jungen, schaue also zwischendurch ins Wohnzimmer und da steht H am Stuhl und fährt mit offenem Mund an der oberen Lehne entlang. Ich glaube, es ist klar, was ich meine.

Der einzige Weg ist dann etwas zu finden, was H ausreichend beschäftigt, so dass er den Mund zeitweilig vergisst. Dazu zählen zum Beispiel:

  • Magformers
  • eine Kiste mit Bohnen und dazu Schüsseln, Töpfe und Suppenkelle zum Umfüllen
  • ein Fotobuch mit Bildern von H&M (ziemlich gefährlich, falls H den Mund doch nicht ganz vergisst)
  • ein paar Murmeln in der Wäschewanne
  • eine Zeitung zum Zerfleddern
  • gemeinsam etwas bauen

Mir ist klar, dass das orale Explorieren für H wichtig ist. Dass es für meinen fünfjährigen, aber retardierten Sohn ähnlich wichtig ist, wie es für die einjährige M war. Aber manchmal reicht diese Erkenntnis nicht aus, um mich bei Laune zu halten. Dann sehe ich nur, dass es an jedem Tag so ist. Und das seit Jahren …

Eine Party und ihre Folgen

Auf einer Party erzählte ich einer Nachbarin vor vielleicht zwei Jahren von H’s Behinderung. Sie sagte daraufhin: „Ein behindertes Kind ist ein Geschenk“. Durch mich schoss eine Flut an Emotionen und Gedanken. Als sich der Sturm gelegt hatte, stand meine Meinung fest:

Klar hat sie irgendwie Recht, aber sie hat absolut kein Recht, mir das zu sagen. Schließlich weiß sie nichts vom Alltag mit H. Kinder sind per se herausfordernd – das weiß jede*r mit Nachwuchs. H jedoch bringt multiple Herausforderungen mit sich und die noch manchmal zum Quadrat. Das Sabbern und das eiserne In-den-Mund-Nehmen gehören dazu.

Auf der Party war ich noch länger abwesend nach dem Nachbarinnen-Kommentar. Ich musste mich innerlich dazu positionieren. Ich wurde trotzig und beschloss, dass ich H nicht verharmlosen werde, um es anderen leicht zu machen. Deshalb ist es mir wichtig, hier offen über meinen Ärger zu schreiben. Er darf sein. Natürlich darf er das Kind nicht bedrohen, aber das Gefühl hat seine Berechtigung. Ich will H um nichts in der Welt missen, aber es gibt Themen, die einfach anstrengend sind. Unliebsam. Sperrig. Ätzend.

Ende gut …

Findet H dann unter dem Sofa doch noch eine Spielangel und kommt zu mir in die Küche, ist alles anders. Er hat Schnur und Magnet wieder tief im Schlund und grinst mich gänzlich unbedarft an. In diesem Moment hat der Ärger schweres Spiel. Dann ist H tatsächlich einzig ein sagenhaftes Geschenk – eines mit viel Spucke eben …

Eine Antwort auf „Symptom-Ärger“

  1. liebe Coli, diese geschichte gehört mit zu den einrücklichsten auf deinem blog. musste beim lesen wirklich mit dir mit-wüten und mit-schmunzeln. so soll es sein. super! titta

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