Herbst-Spaziergang in zügellosem Freudentaumel

Wir unterscheiden nicht zwischen Woche und Wochenende, Alltag oder Ferienzeit. Bei uns ist heißt es „Kita-Tag“ versus „Familientag“. Heute ist ein idealtypischer Herbst-Familientag. Morgens Frühstücksei im Nebel, vormittags Einkauf und Herumkruschteln, nachmittags ein blauer Spaziergeh-Himmel. Also raus …

M hat Lust mit uns zu laufen und lässt das Fahrrad stehen. Für H kommt der Buggy mit.  Gehen wir zum Spielplatz um die Ecke oder einmal um den Pudding, bleibt der Reha-Buggy seit kurzem im Keller. Alles bis bummelig 500 Meter schafft H. Vor allem schaffen wir Eltern es auf diesen kurzen Distanzen, geduldig zu bleiben. Denn H stolpert mit seinem sperrigen Gang langsam voran, schaut durch Zäune, bleibt stehen, um auf Bäume oder Häuser zu zeigen und so weiter. Sein Interesse am Ziel – das hat sich bei M bereits geändert – bleibt nichtig. H ist im Hier und Jetzt und entdeckt bei jedem Schritt die Langsamkeit neu. Heute wollen wir Strecke machen, also haben wir den Buggy dabei.

Wie soll ich beschreiben, welches Ereignis H aus einem Spaziergang gestalten kann? Vorweg:

  • H liebt draußen. Er ist ein echtes Outdoor-Menschlein und beschwert sich stets, wenn der rein muss.
  • H läuft noch nicht lange so gut, dass er spürbar vorankommt. Mittlerweile rennt er sogar – zwar in seinem eigenen Slow Motion-Stil, aber man merkt, er wird fixer.
  • H ist neugierig auf die Dinge da draußen. Sein Lieblingsspiel: Mit dem Zeigefinger in die Welt stechen und den Begriff für das Gezeigte hören. Das zelebriert er bis ins Unendliche …

Aufbruch

Hat H die Treppe von der Haustür hinunter in den Vorgarten mit unserer Hilfe bewältigt, geht es los: Die Hände wandern in die Höhe (zum Balance-Halten?) und er geht in seinem fixen Schritt zum Gartentörchen. Auf dem Bürgersteig wartet schon der Buggy. Der Griff kann sehr weit heruntergestellt werden und H fordert mit „Äh“ und gezieltem Fingerzeig , dass der Griff in seine Höhe gebracht wird. Er will schieben.

H schiebt

H läuft, den Buggy vor sich hertreibend, mit Leidenschaft los – man erkennt sie an dem steten „Hmmm“, das H in seiner kehligen Art brummt. Wirklich, er hört damit nur zum Einatmen auf.
H sieht schlecht und fokussiert kaum – man kann sich also vorstellen, dass der Bürgersteig für seine Buggy-Tour selten breit genug ist. Heute schiebt er zum ersten Mal unsere korrigierenden Hände immer wieder weg und signalisiert uns per Gebärde deutlich „Stopp“.
M erklärt sich irgendwann selbstlos bereit, sich in den Buggy zu setzen, damit H sie schieben kann. Das leidenschaftliche Brummen wird lauter, es kommen Juchzer dazu. H müht sich redlich, Unebenheiten ohne unsere Hilfe zu meistern – und schafft es stolz grinsend.

M schiebt

Dann lässt er den Griff los, macht erst an meiner Hand Station und taumelt  dann zu M nach vorn. Er winkt ihr zu, sie solle aussteigen und zeigt nach hinten. Er will sich von seiner Schwester schieben lassen.
Auch im Sitzen werden die Arme nach oben oder außen gestreckt. Die Hände öffnen und schließen sich – beides Ausdruck der großen Freude über die entspannte Familie, die frische Luft und den modrigen Stock, den H mittlerweile von M bekommen hat. M wird nicht müde, ihren Bruder zu kutschieren und ruft ihm zu, wenn er sich festhalten soll. Auch sie lehnt jede Hilfe ab.

Nach ein paar Minuten klettert H wieder aus dem Buggy und hält zu Fuß Kurs auf eine kleine Brücke. Ich las mal in einer taz-Headline, Eltern von behinderten Kindern seien notgedrungen Helikopter-Eltern. Das ist gerade so eine Situation. H in seinem – das Wort ist Programm – Freudentaumel droht ständig hinzufallen oder jetzt eben das Brückchen zu verfehlen. Wir helikoptern also, manchmal den Atem anhaltend, aber ihn möglichst nicht störend, um ihn herum.

Lebenslust, die ihresgleichen sucht

Bei diesem Spaziergang kommt H nur zwei Mal zu Fall – ohne ernstliche Blessuren. Er freut sich an jeder Ente, an allen, die uns entgegenkommen, an der Kraft seiner Beine und an M freut er sich am meisten. Sie turnt um ihn herum, zeigt ihm, was sie sehenswert findet und schürt seine Glückseligkeit. Vielleicht, weil sie einfach spürt, dass in diesem Freudentaumel eine tiefe Lebenslust steckt, die mit kaum etwas aufzuwiegen ist …

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